alpha-retro.: Huisele Hermann - der Sagenforscher aus Tirol (1965) | Video der Sendung vom 21.02.2020 20:15 Uhr (21.2.2020) mit Untertitel
Huisele Hermann - der Sagenforscher aus Tirol (1965)
Im österreichischen Osttirol gab es in den Sechzigerjahren noch ein paar Dörfer, in denen am Allerseelentag die Krapfenschnapper umgingen. Das waren Gruppen von maskierten Kindern, die von Haus zu Haus zogen, um Krapfen zu „schnappen“. Zu ihrer Verkleidung hatten sie noch Stöcke dabei, an deren oberem Ende stilisierte Schafs-, Gams-, Ziegenköpfen usw. mit klappbarem Unterkiefer befestigt waren, mit denen sie klappern und einen rechten Lärm fabrizieren konnten. Ein zwar aussterbender aber alter Brauch? Ein sehr alter sogar und die verschiedenen Köpfe symbolisierten sozusagen die Hoffart, den Neid, die Wollust, die Untreue usw. Geister und Hexen, Kaser und Venedigermanndl, geflügelte Rösser, Riesengespenster und all die Märchenkönige zwischen Untersberg und Rosengarten verschwinden, ihre Zeit ist abgelaufen. Doktor Hermann Holzmann, den alle nur den „Huisele Hermann“ nennen, versuchte quasi in letzter Sekunde all das aufzuschreiben und festzuhalten. Otto Guggenbichler hat ihn dabei mit der Kamera begleitet. Tirol war früher berühmt für seine vielen Märchen, die Gebrüder Grimm z.B. fuhren extra nach Tirol, um diese aufnehmen. Der Huisele wandert unermüdlich die Dörfer und Täler und Weiler ab und sucht alte Leute ab, um ihnen nächtelang zuzuhören. „Der Volksglaube“, sagt der Huisele, „ist Teil eines naturverbundenen Weltbildes, das allmählich versinkt. Nicht Dummheit und Naivität sondern die Umwelt und die Geschichte haben die Sagen geformt. Dies vermag nur der zu verstehen, der die Natur wirklich kennt.“ Die Natur hoch oben in den Bergdörfern, in den Bergbauernhöfen ist eine andere als die, die man in den Städten kennt: Sie ist rauer, gefährlicher, manchmal menschenfeindlich und oft auch zum Niederknien schön.Dieser Hermann Holzmann, ein promovierter Historiker, war nach dem Studium nach Kanada und dann nach Argentinien ausgewandert. Aber nach ein paar Jahren sparte er dort sein sauer verdientes Geld nur mehr für die Heimreise. Es hatte ihn nämlich die berühmte Tiroler Krankheit erfasst, das Heimweh. Dort in Innsbruck fand er schließlich auch seine Lebensaufgabe: Er legte ein riesiges Archiv an, sammelte Hunderte von Berghöfen in seinem Fotoarchiv, führte eine Hof-, Familien- und Erzählerkartei usw. Ihm war bewusst, dass das alles nicht mehr lange existieren würde, denn auch im hintersten Winkel von Tirol zog inzwischen die Moderne ein. „In Kunststoffküchen und Stuben mit Fernsehtruhen passen keine alten Sagen hinein. Da will man höchstens Folklore sehen.“ Deshalb muss er retten, was zu retten ist, denn: „Mit jedem gescheiten alten Bauern, der stirbt, verliert das Land Tirol ein Geschichtsbuch.“ Text: Wolfgang Habermeyer
Bild: br